
K90 Epitaphium
für das Grabmal des Prinzen Max Egon zu Fürstenberg – Epitaphium for the Tombstone of Prince Max Egon zu Fürstenberg – Épitaphe pour le tombeau du prince Max Egon de Fürstenberg – Epitaffio per la tomba del Principe Max Egon zu Fürstenberg, per flauto grande, clarinetto in do ed arpa
Besetzung: große Flöte, Klarinette in C, Harfe.
Partitur: sieben auf einer einzelnen Notenseite gegeneinander versetzte Notenblöcke.
Aufbau: Miniatur-Charakterstück in Duo-Form aus sieben arabisch numerierten Teilen in gleichbleibendem Tempo Achtel = 80 ohne Taktvorzeichnung und ohne Taktstriche. Das Stück lässt sich auch dreiteilig als Flöten-Klarinetten-Duo mit einem Harfen-Vorspiel, zwei Harfen-Zwischenspielen und einem Harfen-Nachspiel definieren (1: Solo [10 Achtelwerte]; 2: Duo [10 Achtelwerte]; 3: Solo [8 Achtelwerte]; 4: Duo [14 Achtelwerte]; 5: Solo [8 Achtelwerte]; 6: Duo [18 Achtelwerte]; 7: Solo [8 Achtelwerte]), ist aber responsorial gedacht, indem auf eine Harfenphrase eine Bläserphrase antwortet und die Harfenphrase die Komposition beschließt. Dementsprechend gibt es 4 Harfen- und 3 Bläser-Blöcke, die man auch Strophen nennen kann, A-B-A-B-A-B-A in unterschiedlicher Strukturierung als A1-B1-A2-B2-A3-B3-A4 oder A1-B2-A3-B4-A5-B6-A7. Für die A-Strophen benutzte Strawinsky das vollständige Muster von Grundreihe, Umkehrung (Inversion), Krebs (Reversion) und Krebs der Umkehrung (reversive Inversion), für die B-Strophen die Grundreihe, die reversive Inversion, die Reversion und die Inversion. Die Reihen werden nicht durch Kombinationen außerhalb der Reihe durchbrochen, jedoch an einer Stelle in ihrer Binnenabfolge vertauscht. Bei Akkordkombinationen rechnet Strawinsky die Reihe gleicherweise aufwärts wie abwärts. Selbstverständlich gilt das Prinzip der enharmonischen Verwechslung. Nicht dem Klang, aber der Struktur nach sind cis und des, dis und es, fis und ges, gis und as, ais und b sowie h und ces identisch. Die Abschnitte 1 und 2 wurden jeweils ohne Abweichungen der Grundreihe nachkomponiert. Dasselbe gilt für die Inversion von Abschnitt 3 und für die reversive Inversion von Abschnitt 4, nicht jedoch für die Reversion von Abschnitt 5 = Harfenabschnitt 3. Dort hat Strawinsky die ersten 3 Töne miteinander vertauscht. Der Regel nach müsste es a-gis-g heißen, Strawinsky schreibt aber g-a-gis, wobei g und gis als Vorschläge dienen. Da er zweimal alle vier Grundreihen verwenden wollte, aber nur 7 Abschnitte dafür zur Verfügung hatte, musste er einen der Bläserblöcke, von denen es nur drei gibt, auf 2 Reihen erweitern, um auszukommen. Er wählte spannungsbedingt den 6. und damit den für Flöte und Klarinette finalen Abschnitt. Die Flöte spielt davon 14 Töne, die Klarinette 10. Die Reihen, zunächst die Reversion, dann die Inversion, werden nicht gemischt, sondern aneinander angeschlossen und verbleiben somit im Strukturcharakter der Gesamtkomposition. Gleichzeitig wird damit ein Reihenparallelismus der jeweils dritten Abschnitte von A und B vermieden. Der 7. und letzte Abschnitt schließt mit einer reversiven Inversion.
Aufriss
Achtel = 80
1 (Solo Harfe [10 Achtelwerte]
2 (Duo Flöte-Klarinette [10 Achtelwerte]
3 (Solo Harfe [8 Achtelwerte]
4 (Duo Flöte-Klarinette [14 Achtelwerte]
5 (Solo Harfe [8 Achtelwerte]
6 (Duo Flöte-Klarinette [18 Achtelwerte]
7 (Solo Harfe [8 Achtelwerte]
Reihe: cis2-ais1-dis2-e2-c2-h1-fis1-f1-d2-g1-gis1-a1.
Stil: Trotz des Anlasses und trotz der strengen Reihenkonstruktion klingt das Stück eher hymnenartig. Abgesehen davon, dass nach dem christlichen Weltbild Strawinskys der Tod die Funktion einer Lebenseröffnung hat, sah er sich durch Purcells Funeral Music for Queen Mary bestätigt, die ebenfalls als Hymne gearbeitet ist.
Widmung: Die Widmung ist Bestandteil des Haupttitels.
Dauer: 1' 10".
Entstehungszeit: zwischen Mitte April und Anfang Juni 1959.
Entstehungsgeschichte: Nach dem am 6. April 1959 erfolgten Tod des Prinzen Max Egon zu Fürstenberg wurde Strawinsky nebst einigen anderen zeitgenössischen Komponisten von Heinrich Strobel, dem damaligen Leiter der Musikabteilung des Südwestfunks Baden-Baden, um eine in Donaueschingen aufzuführende Trauermusik ersucht. Strawinsky, der seit seiner als aufsehenerregend empfundenen Wende zur Zwölftonmusik Webernscher Prägung bei den jüngeren Komponisten hohes Ansehen genoss, war in beiden Jahren zuvor, also 1957 und 1958, Gast des Fürsten gewesen. Darüber hinaus hatte er den Donaueschinger Musikfesten schon in den zwanziger Jahren viele Aufführungen seiner Musik zu verdanken. Seine Trauermusik sollte dem ersten von drei Konzerten vorangesetzt werden, das Anton Webern gewidmet war , wie er offensichtlich erst später erfuhr. Strawinsky sagte zu. Das kurze Stück muss spätestens am 5. Juni 1959 fertiggestellt gewesen sein. Wie für Strawinsky nicht unüblich, identifizierte er den Trauermodus responsorial und begann das Stück mit einer Skizze für 2 große Flöten. Die Uridee wurde erweitert, indem er die beiden hohen Stimmen als Einheit wertete und ihnen eine Bassstimme entgegensetzte. Somit war der Fortführungsgedanke ein antiphonal zwischen Bass und Diskant zu spielendes Stück. Bei der Musterung seines ersten Skizzenfragmentes entdeckte er dessen annähernd zwölftönige Struktur. Er machte also dieselbe Erfahrung wie die Wiener Komponisten um 1910, als sie die Zwölftönigkeit nicht als Modell entwickelten, sondern sie aus nicht zwölftönig gedachten Stücken herauslasen und dann als kompositionstechnisches Prinzip erkannten. So entwickelte Strawinsky aus einem ursprünglich nicht zwölftönig entworfenen Fragment die Reihe und nahm sie als Grundlage der Skizzenrevision und des Weiterkomponierens. Für das Bassregister wählte er die Harfe, weil er anlassbedingt dem Stück einen gedämpften Klang zu geben wünschte. Das ihn reizende kompositorische Problem eines zweistimmigen Kontrapunkts bestand in der harmonischen Verbindung verminderter Sekunden. Als er erfuhr, dass sein Stück zu Beginn eines Webern-Konzertes aufgeführt werden sollte, ersetzte er die zweite große Flöte durch eine C-Klarinette, weil in den zu spielenden Webern-Liedern Op. 15 diese Kombination vorgeschrieben ist. Der kompositorische Prozess endete, für Strawinsky nicht ungewöhnlich, mit dem als letztem geschriebenen ersten Abschnitt.
Uraufführung: am 17. Oktober 1959 im Rahmen der Donaueschinger Musikfestspiele unter der Leitung von Pierre Boulez
Bemerkungen: In Donaueschingen regelte man das Aufführungs-Verfahren so, dass jedes der drei Konzerte mit einer Trauer- oder Gedenkmusik auf beziehungsweise an den Prinzen eröffnet wurde. Bei den beiden anderen Stücken handelte es sich um Kompositionen von Pierre Boulez und von Wolfgang Fortner. Organisierte man das Gedächtnis an den Fürsten in dieser dezenten Form eines kompositorischen Prologs aus drei Generationen neuer Musik und nicht als eigenes Trauerkonzert in Suitenform, so musste man sich auf drei Komponisten beschränken, weil nicht mehr als drei Konzerte im Programm standen. Die Repräsentanten waren aus der Sicht des Jahres 1959 sehr gut ausgewählt: der große alte Mann Strawinsky für die ältere Generation, der organisatorische Macher Fortner für die mittlere Generation und der agile Boulez als Sinnbild für die jüngste Komponistengeneration. Für andere Komponisten, die sich gewiss gerne hätten ansprechen lassen, war da kein Platz mehr. In der Szene hatte sich die Angelegenheit wohl herumgesprochen. Strawinskys Freund Ernst Krenek schrieb am 7. Juni 1959 einen Brief an Robert Craft, in dem er Auskunft darüber erbat, wer von wem in der Sache angesprochen worden sei. Möglicherweise war er darüber bestürzt, dass ein solches Ersuchen nicht auch an ihn ergangen war. Aber Krenek blieb bei den jungen Leuten in Darmstadt ohne Erfolg. Anders als Strawinsky wurde er nicht mehr als ihresgleichen betrachtet. Boosey & Hawkes erfuhren ebenfalls etwas von dieser Komposition und Ernst Roth fragte deshalb bei Strawinsky an; denn Strawinsky schrieb am 5. Juni 1959 an Roth zurück, ja, er habe ein ganz kurzes Stück zum Gedächtnis des kürzlich verstorbenen Prinzen für eine Herbstaufführung geschrieben (a very short piece (on page) in the memory of late Prinz . . .) und nannte das Instrumentarium.
Fassungen: Der Verlagsvertrag zwischen Igor Strawinsky und Boosey & Hawkes wurde am 29. Juli 1959 geschlossen. Vom Epitaph erschien 1959 eine einseitige partiturähnliche Spiel-Ausgabe im vierseitigen nicht paginierten Quartformat mit einem sinnvoll-originell gestalteten Umschlag, der auf dem Außenblatt [S. A] einen gezeichneten liegenden Grabstein mit dem Werktitel als handgeschriebener Zier-Inschrift und darunter Strawinskys Unterschrift zeigt. Diese Zeichnung dürfte von Strawinsky selbst stammen. Jedenfalls findet sie sich als Skizze im Manuskriptnachlass zum Epitaph. Der Notentext [S. C] besteht nur aus einer einzigen Seite und ordnet die Instrumentalpartien blockartig an. In den Umschlag finden sich in der Regel 2 weitere Instrumentalstimmen als Spielstimmen eingelegt.
Historische Aufnahmen: Hollywood 25. Januar 1961 mit dem Flötisten Arthur Gleghorn, dem Klarinettisten Kalman Bloch und der Harfenistin Dorothy Remsen unter der Leitung von Igor Strawinsky; New York City am 14. Dezember 1964 mit dem Flötisten Arthur Gleghorn, dem Klarinettisten Kalman Bloch und der Harfenistin Dorothy Remsen unter der Leitung von Robert Craft.
CD-Edition: XII/3 (Aufnahme 1964 unter Robert Craft).
Autograph: Leihgabe aus dem Bestand von Boosey & Hawkes an die British Library London.
Copyright: 1959 durch Hawkes & Sons, London.
Ausgaben
a) Übersicht
90-1 1959; Boosey & Hawkes [Hawkes & Sons] London; 4 S. 4°; 18599.
90-1[65] [1965]; ibd.
b) Identifikationsmerkmale
90-1 ^°EPITAPHIUM / für das Grabmal / des Prinzen / Max Egon / zu Fürstenberg^ / by / Igor Stravinsky°* / Boosey & Hawkes // (Partitur-Spielausgabe [kein inliegender Stimmensatz] als Bogen 23,3 x 31 (4°); 4 [1] Seiten unpaginiert steifes Papier schwarz auf cremeweiß [Zieraußentitelei als schräg liegender Grabstein etwa 12,6 x 6,3 bei 9,2 zu 9 vordere Länge von 0,5 zu 1 steigend + linke Schenkellänge 5,9 + rechte Schenkellänge 4,9 zu 6,3 von 1 zu 2,6 steigend + handschriftlich eingelassenem Werktitel, Leerseite, Notentextseite, Leerseite]; Kopftitel >EPITAPHIUM / für das Grabmal des Prinzen / MAX EGON / ZU FÜRSTENBERG<; Autorenangabe Notentextseite unpaginiert unter Kopftitel rechtsbündig zentriert >IGOR STRAWINSKY* / 1959<; Rechtsschutzvorbehalt in Verbindung mit Plattennummer und Herstellungshinweis Notentextseite unterhalb Notenspiegel linksbündig zentriert >© 1959 by Hawkes & Sons (London), Ltd. / All rights reserved / B. & H. 18599 / Printed in England<; ohne Endevermerk) // (1959)
^ ^ Werktitel in Grabsteinzeichnung.
° ° handschriftlich in Strichätzung.
* Die unterschiedliche Schreibweise ist original; die späteren Ausgaben sind anglisiert.
90-1[65] ^°EPITAPHIUM / für das Grabmal / des Prinzen / Max Egon / zu Fürstenberg^ / by / Igor Stravinsky°* / Boosey & Hawkes // (Partitur-Spielausgabe [kein inliegender Stimmensatz] als Bogen 23,3 x 31 (4°); 4 [1] Seiten unpaginiert steifes Papier schwarz auf cremeweiß [Zieraußentitelei als schräg liegender Grabstein etwa 12,6 x 6,3 bei 9,2 zu 9 vordere Länge von 0,5 zu 1 steigend + linke Schenkellänge 5,9 + rechte Schenkellänge 4,9 zu 6,3 von 1 zu 2, 6 steigend + handschriftlich eingelassenem Werktitel, Leerseite, Notentextseite, Seite mit verlagseigener Werbung >Igor Stravinsky<** Stand >No. 40< [#] >7.65<]; Kopftitel >EPITAPHIUM / für das Grabmal des Prinzen / MAX EGON / ZU FÜRSTENBERG<; Autorenangabe Notentextseite unpaginiert unter Kopftitel rechtsbündig zentriert >IGOR STRAWINSKY* / 1959<; Rechtsschutzvorbehalte neben Kopftitel rechtsbündig gekastet >IMPORTANT NOTICE / The unauthorized copying / of the whole or any part of / this publication is illegal< unterhalb Notenspiegel in Verbindung mit Plattennummer und Herstellungshinweis linksbündig zentriert >© 1959 by Hawkes & Sons (London), Ltd. / All rights reserved / B. & H. 18599 / Printed in England<; ohne Endevermerk) // [1965]
^ ^ Werktitel in Grabsteinzeichnung.
° ° handschriftlich in Strichätzung.
* unterschiedliche Schreibweise original; die späteren Ausgaben sind anglisiert.
** Angezeigt werden ohne Niederlassungsangaben zweispaltig ohne Editionsnummern und ohne Preisangaben >Operas and Ballets° / Agon [#] Apollon musagète / Le baiser de la fée [#] Le rossignol / Mavra [#] Oedipus rex / Orpheus [#] Perséphone / Pétrouchka [#] Pulcinella / The flood [#] The rake’s progress / The rite of spring° / Symphonic Works° / Abraham and Isaac [#] Capriccio pour piano et orchestre / Concerto en ré (Bâle) [#] Concerto pour piano et orchestre / [#] d’harmonie / Divertimento [#] Greetings °° prelude / Le chant du rossignol [#] Monumentum / Movements for piano and orchestra [#] Quatre études pour orchestre / Suite from Pulcinella [#] Symphonies of wind instruments / Trois petites chansons [#] Two poems and three Japanese lyrics / Two poems of Verlaine [#] Variations in memoriam Aldous Huxley / Instrumental Music° / Double canon [#] Duo concertant / string quartet [#] violin and piano / Epitaphium [#] In memoriam Dylan Thomas / flute, clarinet and harp [#] tenor, string quartet and 4 trombones / Elegy for J.F.K. [#] Octet for wind instruments / mezzo-soprano or baritone [#] flute, clarinet, 2 bassoons, 2 trumpets and / and 3 clarinets [#] 2 trombones / Septet [#] Sérénade en la / clarinet, horn, bassoon, piano, violin, viola [#] piano / and violoncello [#] / Sonate pour piano [#] Three pieces for string quartet / piano [#] string quartet / Three songs from William Shakespeare° / mezzo-soprano, flute, clarinet and viola° / Songs and Song Cycles° / Trois petites chansons [#] Two poems and three Japanese lyrics / Two poems of Verlaine° / Choral Works° / Anthem [#] A sermon, a narrative, and a prayer / Ave Maria [#] Cantata / Canticum Sacrum [#] Credo / J. S. Bach: Choral-Variationen [#] Introitus in memoriam T. S. Eliot / Mass [#] Pater noster / Symphony of psalms [#] Threni / Tres sacrae cantiones°< [° mittenzentriert; °° Titelfehler original].
K Catalog: Annotated Catalog of Works and Work Editions of Igor Strawinsky till 1971, revised version 2014 and ongoing, by Helmut Kirchmeyer.
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